Entstehung & Aufrechterhaltung

Wie entstehen Essstörungen und wie werden sie aufrechterhalten?

Zumeist sind viele verschiedene Faktoren (wie einzelne "Mosaiksteine") daran beteiligt, dass eine Essstörung entstanden ist. Dies sind genetische Faktoren und eine gestörte Balance von Hirnbotenstoffen, aber vor allem ungünstige Lernerfahrungen (meist schon im Kindes- und Jugendalter), kulturelle Faktoren und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Aufrechterhalten werden Essstörungen über sich selbst verstärkende Teufelskreise.

Heute geht man davon aus, dass viele verschiedene Faktoren (und ihre Wechselwirkung) Essstörungen auslösen und aufrechterhalten können. Die Gewichtung der verschiedenen Faktoren ist hierbei sehr unterschiedlich.

Was macht möglicherweise für eine Essstörung empfänglich?

Biologische Faktoren:
Es gibt eine gewisse genetische Vorbelastung für Essstörungen, wie man beispielsweise an Untersuchungen mit eineiigen Zwillingen herausgefunden hat. So haben Menschen, deren genetisch identischer Zwilling unter einer Anorexie leidet, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, ebenfalls an einer Anorexie zu erkranken (ca. 55 % Wahrscheinlichkeit verglichen mit 5% bei zweieiigen Zwillingen). Für bulimische Erkrankungen nähern sich die Werte an.

Zusätzlich wird davon ausgegangen, dass die Balance bestimmter Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn gestört ist und es zu einem Mangel insbesondere des Botenstoffes Serotonin kommt. Ein Mangel an Serotonin ist auch für depressive Symptome verantwortlich und führt zu einem verstärkten Auftreten von Heißhungerattacken. Dies erklärt auch den möglichen positiven Effekt einer begleitenden medikamentösen Behandlung der Bulimie mit Medikamenten, die in den Serotoninspiegel eingreifen (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI).

Auch ist der körpereigene "Set-Point" (der Gewichtsbereich, der von diesem Körper natürlicherweise angestrebt wird) sehr verschieden: Menschen mit einem höheren Set-Point sind einem soziokulturell bedingten schlanken Körperideal in anderer Weise ausgesetzt als Menschen mit einem niedrigeren Set-Point. In ähnlicher Weise ist auch der frühe Eintritt in die Pubertät mit den entsprechenden Veränderungen (insbesondere des weiblichen Körpers) ein Risikofaktor einer späteren Essstörung.

Wichtig ist auch, körperliche Erkrankungen als Ursache eines bestehenden Untergewichtes auszuschließen und eine sorgfältige medizinische Abklärung vorzunehmen.

Psychologische, soziale und kulturelle Faktoren:
Noch entscheidender für das Entstehen und die Aufrechterhaltung von Essstörungen sind bestimmte Lernerfahrungen, die Menschen mit Essstörungen gemacht haben, sowie einige charakteristische Persönlichkeitsfaktoren. Auch soziale und kulturelle Faktoren wirken hier ein: In unserer Gesellschaft stellen Schlankheit und körperliche Fitness wichtige Güter dar ("Schlankheitsideal") und werden mit positiven Eigenschaften (wie z.B. Leistungsbereitschaft, Disziplin und Status) verbunden. Hieraus entsteht ein nicht geringer Druck, eben diesen Idealen zu genügen. Neben diesen allgemeinen Umweltfaktoren spielen individuelle Hintergrundfaktoren bei der Entstehung einer Essstörung eine Rolle.

Typische Merkmale einer Ursprungsfamilie, die eine spätere Essstörung begünstigen können, sind beispielsweise eine emotionale Überforderung des Kindes durch z.B. die Einbeziehung in elterliche Konflikte (das Kind "zum*r besten Freund*in oder Koalitionspartner*in machen"). Ungünstig sind auch starre Norm- und Wertvorstellungen in der Familie, hohe Leistungsansprüche und eine generell genussfeindliche Lebensausrichtung der Familie. Ebenfalls ungünstig ist Überbehütung und eine nur geringe Betonung von Individualität. Diese Faktoren können zu Störungen des Selbstwertes sowie zu überhöhten Leistungsansprüchen (Perfektionismus) und überstarken Wert- und Normvorstellungen führen. Wird durch Überbehütung Autonomie eingeschränkt, kann dies zu einem Gefühl eigener Ineffektivität führen und eine spätere Essstörung begünstigen.

Bei einem Teil der essgestörten Patient*innen liegen zusätzlich Traumatisierungen in der Lebensgeschichte oder zum Zeitpunkt der Entstehung der Essstörung vor. Traumatische Erfahrungen können hierbei von emotionalen und sozialen Traumata (z.B. emotionaler Vernachlässigung, massivem Ausgrenzungserleben, Mobbing) bis hin zu sexuellem Missbrauch reichen und zu einer weiteren Beeinträchtigung des Selbstwertes führen. Die Essstörung kann dann eine Möglichkeit
darstellen, negative Gefühle (insbesondere Ekel, Scham und Schuld) zu vermeiden und Kontrolle und Autonomie wiederherzustellen.

Auf diesen "vorbereiteten Boden" trifft dann zum Zeitpunkt des Erstauftritts einer Essstörung häufig eine neue Belastungssituation (z.B. Situationen, in denen neue, nur schwer zu bewältigende Anforderungen gestellt sind). Auch kann der erlebte Kontrollverlust über den eigenen Körper in der Pubertät (bedingt durch die typischen Körperveränderungen) eine Essstörung auslösen.

Wichtig ist, dass zumeist kein einzelner Faktor für sich alleine die Entstehung der Essstörung bedingt, sondern dass verschiedene Mosaiksteine aus Biologie, Kindheit, Persönlichkeit und speziellen Lebenserfahrungen zum Zeitpunkt des Ausbruchs zu der Entwicklung der Störung beigetragen haben.
→ Die biografisch-systemische Verhaltenstherapie ist in besonderer Weise geeignet, persönlichen Mosaiksteine eines Betroffenen zu identifizieren.

Wie werden Essstörungen aufrechterhalten?

Oft bleiben Essstörungen dadurch langfristig bestehen, dass die Faktoren, die zum Auftreten der Essstörung geführt haben, weiterhin bestehen. Erleben sich Betroffene z.B. weiterhin als ineffektiv und hilflos und bewerten ein niedriges Körpergewicht als zentral, so halten eben diese Faktoren auch die Essstörung aufrecht.

Häufig hat eine psychische Störung, neben dem deutlichen Leiden, das sie verursacht, außerdem "positive" Nebeneffekte für die Betroffenen. Z.B. kann es sein, dass die Essstörung dabei "hilft", bestimmte schwierige Gefühle oder Situationen zu bewältigen. In diesen Fällen spricht man von " Funktionalitäten" der Störung. Zudem werden Essstörungen im Rahmen bestimmter Teufelskreise aufrechterhalten.

Der Teufelskreis der Anorexie:

Der Teufelskreis der Anorexie besteht darin, dass die Betroffene die Lösung von Konflikten in einem schlanken Körper sehen und entsprechend restriktiv essen. Die Gewichtsabnahme führt zunächst zu positiven Konsequenzen (Lob, Steigerung des Selbstwertes). Langfristig nimmt die Bedeutung des niedrigen Gewichtes für das Selbstbild immer weiter zu, so dass sich die Angst vor Gewichtszunahme verstärkt und das eingeschränkte Essen aufrechterhält.

Stellen Sie sich folgendes Beispiel vor:
Auf einen vorher "bereiteten Boden" aus einer gewissen biologischen Veranlagung, sozialen und kulturellen Faktoren (Schlankheitsideal) und Persönlichkeitsfaktoren (z.B. instabiler Selbstwert) trifft eine neue Anforderungssituation (z.B. der Eintritt in die Pubertät). Die hier auftretenden Konflikte (z.B. erste romantische und sexuelle Annäherungen) werden auf den Körper bezogen und eine Abweichung von einem verinnerlichten Körperideal wird festgestellt ("Wenn ich dünner wäre, dann…"). Die Betroffenen unternehmen den Versuch, durch gezügeltes Essen an Gewicht abzunehmen und erfahren hierin zunächst Bestätigung der Mitmenschen ("Hast du abgenommen? Gut siehst du aus! Ich wollte, ich hätte deine Disziplin!"). Diese Bestätigung sowie das Hungern selber lösen positive Gefühle aus (Stolz, Euphorie, Selbstwertsteigerung) und verstärken so das Hungern. Das eingeschränkte Essen sowie der Gewichtsverlust erlangen so immer mehr Bedeutung für den Selbstwert und nehmen zunehmend Raum in den Gedanken und Gefühlen ein. Hierdurch werden andere Interessen vernachlässigt und es kommt zum Rückzug aus sozialen Kontakten, wodurch das Thema Essen noch weiter an Bedeutung gewinnt.

Auch verstärkt sich die Fehleinschätzung des eigenen Körpers als zu dick (Körperschemastörung), was die Angst vor Gewichtszunahme erhöht und das Hungern verstärkt. Zunehmend werden jetzt auch die körperlichen Begleiterscheinungen des Hungerzustandes spürbar (z.B. häufiges Frieren, Erschöpfung), der Körper verliert seine Fähigkeit, Hunger- und Sättigungssignale wahrzunehmen. Auf psychischer Ebene zeigen sich depressive Stimmung, Reizbarkeit, Konzentrations- und Schlafprobleme. Durch die Einschränkung des Stoffwechsels (ca. 40% Einschränkung) würde ein normales Essverhalten kurzfristig tatsächlich zu einer Gewichtszunahme führen, was die Angst vor normalen Portionsgrößen und Gewichtszunahme weiter verstärkt. Hier ist der Teufelskreis der Anorexie dargestellt:

Der Teufelskreis der Bulimie:

Restriktives Essen führt zu einem körperlichen Mangelzustand, in welchem das Verlangen nach Nahrung steigt und Heißhunger entsteht. Heißhungerattacken führen kurzfristig zu Stressabbau,
steigern dann jedoch die Angst vor Gewichtszunahme. Diese Angst führt zu Gegenkompensation (z.B. Erbrechen) und weiterem restriktiven Essen, was die Wahrscheinlichkeit für weitere Heißhungerattacken erhöht. Durch die fortgesetzte Nahrungseinschränkung kommt es zu einem
körperlichen Mangelzustand mit Unterzuckerung. In diesem Mangelzustand ist die Wahrscheinlichkeit für Heißhungerattacken erhöht, es entsteht ein starkes Verlangen nach Nahrung, welches das Fortsetzen
des Hungerns erschwert. Es kommt zu einem Heißhungeranfall, welcher zunächst durch Stressabbau und Abfallen der Anspannung "belohnt" wird. Dann treten jedoch negative Gefühle (z.B. Ekel und Scham) in den Vordergrund, und es entsteht Angst, durch den Essanfall zuzunehmen. Diese Angst löst kompensatorische Maßnahmen aus (z.B. Erbrechen), was zu einer kurzfristigen Erleichterung führt ("Die Kalorien bin ich wieder losgeworden."), dann jedoch die Gefühle von Scham und Ekel weiter verstärkt. Als Folge wird sich häufig vorgenommen, in Zukunft noch "eiserner die Nahrungsaufnahme zu kontrollieren.". Hier schließt sich der Teufelskreis aus Nahrungsrestriktion, Heißhunger und Gegenregulation. Hier ist der Teufelskreis der Bulimie dargestellt:

Heißhungeranfälle und Erbrechen werden im Verlauf der Störung zunehmend zu automatisierten Handlungsabläufen. So kann z.B. der Anblick bestimmter Speisen fast reflexhaft Heißhunger oder ein Völlegefühl im Magen Erbrechen auslösen. Auch bekommen Heißhungeranfälle eine zunehmend größere Rolle für die Gefühlsregulation und Anspannungssenkung.