Psychotherapeutische Grundhaltung
Erwerb einer psychotherapeutischen Grundhaltung
Verhaltenstherapie ist eine Form der Psychotherapie und aus unserer Sicht ist für Psychotherapeut*innen der Erwerb der psychotherapeutischen Grundhaltung zentral.
Unter einer psychotherapeutischen Grundhaltung verstehen wir die grundsätzliche Bereitschaft und Fähigkeit, sich im Rahmen einer professionellen Beziehungsgestaltung psychischen, psychosomatischen und körperlichen Problemen im ersten Schritt empathisch verstehend zu nähern, um dann auf dieser Basis Umgangsmöglichkeiten oder Lösungen für die Problematik zu erarbeiten.
Grundhaltung im Spannungsfeld – Der klassifikatorische Zugang
Die psychotherapeutische Grundhaltung in der Verhaltenstherapie steht in dem Spannungsfeld zweier Pole. Der eine Pol ist der Pol des wissenschaftlich klassifikatorischen Denkens. Hier versucht der*die Psychotherapeut*in, quasi vergleichbar mit Ärzt*innen, Zeichen, Symptome und Verlaufsgestalten von Störungen zu erfragen oder durch Beobachtung oder andere Hilfsmittel zu erkennen, um das Beschwerdebild des*r Patient*in dann einer diagnostischen Kategorie (z.B. "rezidivierende depressive Episode" oder "narzisstische Persönlichkeitsstörung") zuordnen zu können. Im Sinne der Personenperspektiven (vgl. Zarbock, Amman, Ringer, 2012, S. 35ff) geht es hier also um eine sogenannte Dritte –Person-Perspektive, die den objektivierenden Blick von außen auf eine psychische Problematik hat.
Der einfühlend verstehende Zugang zum "In-der-Welt-Sein" des*r Patient*in
Ganz zentral und wichtig für die Psychotherapie ist aber, das Einfühlen und Verstehen in die jeweilige individuelle Lebenswirklichkeit des*r Patient*in. Hier geht es darum, dass der*die Psychotherapeut*in sich in den jeweiligen gesellschaftlichen, sozialen, aktuell individuellen und biografischen Lebenskontext des*r Patient*in eindenkt, einfühlt und die subjektive Welterfahrung und Weltsicht des*r Patient*in "von innen" nachvollzieht. Hier kann man durchaus von einem respektvollen therapeutischen Erkunden der individuellen Art des "In-der-Welt-Seins" seines*r Patient*in reden. Der*die Psychotherapeut*in "besucht" die Welt der Erste-Person-Perspektive des*r Patient*in. Hier steht der*die Psychotherapeut*in in der Tradition der Hermeneutik (Auslegungslehre) der Geisteswissenschaften, es geht immer auch um individuelles "Sinn-Verstehen". Der*die Psychotherapeut*in versucht den*die Patient*in von innen heraus, in und aus den Erfahrungen und Lebenswelten des*r Patient*in zu verstehen. Hilfe in diesem Verständnisprozess erfährt der*die Psychotherapeut*in durch seine*ihre Kenntnis von unterschiedlichen Lebenswelten, durch ein wachsendes Repertoire von Erfahrungen mit Patient*innen, aber auch durch die Teilhabe an den gesellschaftlichen, sozialen, wie auch existenziellen Bedingungen des Menschseins. In diesen Prozess des individuellen Sinnverstehens gehen auch immer die individuellen Erfahrungen, Prägungen, Möglichkeiten wie auch Begrenzungen des*r jeweiligen Psychotherapeut*in ein. Kennzeichen dieser individuell verstehenden Annäherung ist daher auch, dass es Psychotherapeut*innen bei verschiedenen Patient*innen eben verschieden gut gelingt, wie weit sie sich diese*n Patient*in auch innerlich vergegenwärtigen können, das heißt, wie weit sie sich zutreffend einfühlen können.
Die Notwendigkeit der Selbsterfahrung
Daher gehört zum Erwerb einer psychotherapeutischen Grundhaltung auch immer die Selbsterfahrung des*r Psychotherapeut*in. In dieser Selbsterfahrung erkundet der*die werdende Psychotherapeut*in sein*ihr eigenes "Geworden-Sein", psychologischer ausgedrückt: Seine*ihre Lerngeschichte, prägende biografische Schlüsselsituationen, aber auch Defizite, Überreaktionsbereitschaften, Ängste, Unsicherheiten und Vermeidungshaltungen.
Anleitung und Fürsorge als Teil der Grundhaltung
Die psychotherapeutische Grundhaltung in der Verhaltenstherapie muss dann noch durch den Aspekt der Anleitung und Fürsorge ergänzt werden. Je nach Einstellung und persönlichen Möglichkeiten und Stärken kann sich ein*e Therapeut*in eher als fürsorgende*r Berater*in und Begleiter*in verstehen, der*die ähnlich wie Lehrkräfte, Rechtsanwält*innen oder Ärzt*innen die Patient*innen darin unterstützen, ihre Problematik (selbst) zu bewältigen.
Darüber hinaus ist es aber auch möglich, dass der*die Therapeut*in (z. B. im schematherapeutischen Schwerpunkt der VT) sich dem Konzept der begrenzten elterlichen Fürsorge verpflichtet fühlt. Über das davor Genannte hinausgehend, wird der*die Therapeut*in dann auch gezielt versuchen, durch warme Fürsorglichkeit und parteiliches Engagement frühere und aktuelle Mangelerfahrung der*s Patient*in auszugleichen und sogar "wiedergutzumachen". Hierbei sind natürlich immer die Grenzen der Professionalität zu beachten. Es geht nie um eine außerprofessionelle, "private" Beziehungsaufnahme.
Das Erlernen der Grundhaltung erfordert ein psychotherapeutisches Milieu und Zeit
Aus unserer Sicht kann eine solche komplexe psychotherapeutische Grundhaltung (mit der notwendigen Bewältigung von inhärenten Konflikten und Widersprüchen) nur in einem sogenannten psychotherapeutischen Milieu erworben werden. Nach unserer Auffassung handelt es sich bei der Psychotherapiedurchführung eben nicht einfach um die Zuordnung von manualisierten Behandlungsempfehlungen zu Diagnosen. Dies wäre eine verkürzte Form von Psychotherapie und würde nur den ersten Zugang zur Psychotherapie, nämlich den ausschließlich diagnostisch klassifikatorischen Zugang zum*r Patient*in, berücksichtigen. Zum Erwerb einer umfassenden psychotherapeutischen Grundhaltung, wie wir sie oben dargestellt haben, sind Vorbilder, Modelle, Mentor*innen und auch langfristigere Lernprozesse mit Patient*innen und deren Behandlungen unbedingt erforderlich. Wichtiges Merkmal solcher Lernprozesse ist, das sie Zeit und echtes Engagement brauchen. Da es sich hier im Wesentlichen um interpersonelle Lernprozesse handelt und der*die herangehende Psychotherapeut*in eine psychotherapeutische Grundhaltung über Identifikation mit Lehrtherapeut*innen, Modelllernen (von Peers und "role-models") und "Ausprobieren" entwickeln muss, ist es aus unserer Sicht unbedingt notwendig, dass in psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen auch Patient*innen über längere Therapieverläufe (60 – 80 Sitzungen, möglichst auch über 1 ½ - 2 Jahre hinweg) in ihrer Entwicklung begleitet werden können.
Nur im Rahmen einer solchen langen Zeitdauer kann eine psychotherapeutische Grundhaltung im oben genannten Sinne wirklich heranwachsen.
Zeit in der psychotherapeutischen Ausbildung
In der Ausbildung zum*r Psychologischen oder Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut*in (oder in der Weiterbildung zum*r ärztlichen Psychotherapeut*in) ermutigen wir daher unsere Therapeut*innen auch, sich für solche Lernprozesse die erforderliche Zeit zu nehmen. Wir wissen, dass solche Lernprozesse in 3 Jahren Gesamtausbildungszeit oft nur schwer unterzubringen sind. Dies führt dazu, dass viele Therapeut*innen die Ausbildung auch erst nach 4 oder gar 4 ½ Jahren abschließen. Wir sind jedoch der Meinung, dass sich solche basalen Lernchancen später im Berufsleben nicht mehr in der gleichen Art bieten werden, wie sie am Anfang der Berufsausübung (auch durch die in der Regel noch "freiere" private Lebenssituation) noch möglich sind. Daher unterstützen wir unsere Ausbildungskandidat*innen darin, ihre Lebens- und Ausbildungsplanung so zu organisieren, dass auch Zeit für die langfristigere Betreuung von schwerer gestörten Patient*innen zur Verfügung steht. Nach unserer Meinung können nur Psychotherapeut*innen mit einer psychotherapeutischen Grundhaltung dauerhaft psychotherapeutische Situationen und Prozesse so gestalten, dass diese auch für schwer beeinträchtigte Patient*innen und Menschen in existentiellen Grenzsituationen tragfähig sind.
Darüberhinaus beugt eine gefestigte psychotherapeutische Grundhaltung auch dem Burnout vor und ermöglicht eine lebenslange Tätigkeit in diesem Beruf.
© Gerhard Zarbock